Hätte das Jugendamt der Stadt Münster die vielfache sexuelle Gewalt an Kindern u.a. durch den mutmaßlichen Haupttäter Adrian V. verhindern oder früher stoppen können?
Prof. Dr. Christian Schrapper sagt:
„Mit dem Wissen von heute hätte man die Opfer besser schützen können. Aber dieses Wissen lag damals nicht vor. Gravierende fachliche Versäumnisse kann ich in der Arbeit des Jugendamtes der Stadt Münster nicht erkennen.“
Die Stadt Münster hat Prof. Dr. Schrapper mit einer kritischen Revision ihres Vorgehens im Umgang mit Adrian V., dessen Lebensgefährtin Frau K. und deren Sohn beauftragt. Adrian V. und mutmaßliche Mittäter müssen sich derzeit vor Gericht verantworten, weil sie den Sohn von Frau K. und andere Kinder und Jugendliche vielfach sexuell missbraucht haben sollen.
Das mutmaßliche Täternetzwerk wurde im vergangenen Jahr aufgedeckt. Adrian V., Frau K. und deren Sohn waren dem Amt für Kinder, Jugendliche und Familien allerdings schon vor Aufdeckung der Taten bekannt.
Bereits Ende 2014 informierte die Staatsanwaltschaft den Kommunalen Sozialdienst der Stadt Münster über eine Anklage gegen Adrian V. wegen des Besitzes und der Verbreitung von kinderpornographischem Material.
Zu klären war, ob dadurch der damals 5-jährige Sohn gefährdet sei.
„Wir haben Prof. Dr. Schrapper gebeten, eine kritische Expertise zu unserem damaligen Vorgehen vorzunehmen, um im Rahmen dieser rückblickenden Betrachtung die Stärken und Schwächen unserer Fallbearbeitung zu identifizieren.
So sah es auch der Ratsbeschluss vom 24.06.2020 vor.“, sagt Sabine Trockel, die das städtische Jugendamt seit Dezember 2019 leitet.
Die Wahl sei auf Prof. Dr. Christian Schrapper gefallen, weil er als bundesweit bekannter Experte für die kritische Aufarbeitung derartiger Fälle gilt.
Prof. Dr. Schrapper stellt die Ergebnisse seiner Fallanalyse am heutigen Donnerstag (4. Januar 2021) im Ausschuss für Kinder, Jugendliche und Familien vor. Für seine Expertise hatte er Zugang zu sämtlichen fallbezogenen Akten und Ansprechpartnern der Stadt Münster.
Ausdrücklich hebt der Experte hervor, dass die Verantwortlichen der Stadt Münster bei der damaligen Bearbeitung des Falles externe Unterstützung durch ein multiprofessionelles Gremium eingefordert haben: „Die Verantwortlichen der Stadt haben alle Anfragen und Aufträge stets zügig und sorgfältig bearbeitet.“
Besonders intensiv hat Prof. Dr. Schrapper sich mit den Kontakten der Stadt mit der Mutter des Opfers befasst. „Frau K. war sorgeberechtigt und erweckte sowohl dem Jugendamt als auch dem Familiengericht gegenüber den Anschein, sich ihrer Schutz- und Sorgepflichten für ihren Sohn bewusst zu sein und diese auch erfüllen zu können. Gegenteilige Belege konnten nicht gefunden werden“, so Prof. Dr. Schrapper. Dass diese Mutter einen Missbrauch an ihrem eigenen Kind gedeckt haben könnte, sei damals für die Mitarbeiter des Jugendamtes kein naheliegender Verdacht gewesen. Heute wissen wir, dass diese Einschätzung hätte intensiver hinterfragt werden müssen.
Das städtische Jugendamt hätte damals stärker und auch gegen den Willen der Mutter auf einem direkten Kontakt zu deren Sohn bestehen sollen, so der Experte. Auch hätte das Jugendamt sich genauer über die persönliche Geschichte und die Lebenssituation der Mutter und ihres Lebensgefährten informieren können und sollen. „Das Jugendamt hat seine Zweifel zwar dokumentiert, aber den Zweifeln und Irritationen ist nicht intensiver nachgegangen worden, entweder um sie zu verwerfen oder zu bestätigen“, legt Prof. Dr. Schrapper auch Schwachstellen in der damaligen Arbeit des Jugendamtes offen.
„Heute würde man da sicher einiges anders machen“, fasst der Experte zusammen, „denn die großen Missbrauchsskandale von Stauffen und Lügde haben inzwischen dazu geführt, dass solche Fälle mit ungleich mehr Sensibilität, Umsicht und vor allem mit einem größeren Wissen um die Täterstrategien bearbeitet werden.“ Die Arbeit an neuen Standards und Empfehlungen für das Vorgehen von Jugendämtern in derartigen Fällen sei nicht abgeschlossen.
Die Arbeit des Jugendamtes der Stadt Münster könne aber nicht an den heutigen, sondern müsse an den damals geltenden Vorgaben und den zu dieser Zeit in Münster üblichen Verfahrensweisen gemessen werden.
Prof. Dr. Schrapper: „Nach diesem Maßstab sind in der Arbeit des Jugendamtes der Stadt Münster im Fallkomplex um den mutmaßlichen Haupttäter Adrian V. zwar deutlich Schwächen erkennbar, in der Summe aber haben die Fachkräfte sachkundig und sorgfältig gehandelt – auch wenn sie damit den Jungen nicht schützen konnten.